Ich danke dir, mein Freund
Nie hätte ich gedacht, diese Worte zu schreiben. Ich bin stillschweigend immer davon ausgegangen, dass du immer da sein wirst, während wir gehen … Jetzt sind deine Bäume tot. Du bist vor uns gegangen. Das ist der Teil, der mir nie in den Sinn gekommen wäre. Dass du vor uns gehst. Du, meine liebe Heimat unter diesen Bäumen, mit Blick aufs Meer, vom Wind gestreichelt.
Nun ja. Es stimmt auf zwei Weisen nicht ganz, dass du gegangen bist. Ich bin 2025 nach drei Jahren Pause wiedergekommen, um zu schauen, wie ein Neustart sich anfühlen würde. Meine Frau und ich hatten uns gefragt, ob wir zusammen etwas anbieten könnten. Wir wussten, dass du uns die Antwort geben würdest. Die Antwort konnte nicht klarer sein.
Dem vorausgegangen sind Jahre, in denen ich mir eingestehen musste, dass die alte Form der Kurse keine Gültigkeit mehr hatte und die angedachte neue Form offener Movement Adventures nicht funktionieren würde. Jahre, in denen ich mich sehr verändert habe.
Denn da war noch mehr. Ich hatte die letzten fünf Jahre in einer großen Integrationsbewegung verbracht. (Das Resultat findet man hier.) Diese öffnete mich zugleich ganz neuen Horizonten. Momentan segle ich noch auf offener See und kein Land ist in Sicht. Und ich genieße das.
Die zweite Weise, warum es nicht ganz stimmt, dass du gegangen bist: Die Bäume sterben. Als Kurs-Ort bist du gegangen. Doch der „Spirit“, möchte ich sagen, bleibt unverändert. Der Friede, die tiefe Stille, das Aufgehobensein, und eine unbesschreibliche Art der Kommunikation, der Gemeinschaft.
Du veränderst dich. Schneller, als ich es mir hätte vorstellen können. Aber: I accept the change.
Falls jemals wieder etwas aus meiner Bewegungswelt geteilt werden wird, dann wohl ziemlich sicher nicht bei dir. Und hier ist die Krux. Denn tatsächlich warst du nicht nur ein Platz, sondern Heimat und Quelle. Ja, das ist eine der großen Lehren, die du mich gelehrt hast: dass die Dinge eine Heimat haben. Alles, was ich geteilt und in Sachbüchern geschrieben habe, ist aus der Begegnung mit dir hervorgegangen. Kann ich es jetzt einfach so woanders hin bewegen?
Wenn, dass muss diese Bewegung eine Transformationsbewegung sein. Es nimmt eine andere Form an.
Und ich glaube, diese Transformation hat längst begonnen.
Was ich auch weiß: Du verlässt mich immer noch nicht.
Der folgende Text ist sowohl schon in Reise zum Unmöglichen als auch in Spuren des Bewegtseins erschienen. Aus aktuellem Anlass erscheint er hier nochmals, gekürzt.
»Wie hast du diesen Ort entdeckt?«
Naja, wir sind einfach losgezogen. Damals, auf Korsika, als junge Familie auf Entdeckungs-Reise (das war 2003, glaube ich). So weit wie möglich. Haben neue Räume entdeckt. Und da war er. Und seit er da war, ist er. Es war Liebe auf den ersten Blick, jedenfalls von meiner Seite her. Man könnte meinen, wir hätten ihn entdeckt. Doch es ist anders rum: Er ent-deckt mich. Immer wieder. Deckt er auf. Ich kehre wieder und wieder. Er wirft mich aus wie ein Herzschlag und zieht mich zu sich zurück. Er hat keinen Namen, er heißt einfach Platz oder Ort, und ich finde das sehr stimmig, nicht die Bezeichnung, sondern die Nicht-Bezeichnung. So im Sinne von: »Das Dao, das benannt werden kann, ist nicht das wahre Dao.«
Bei den Alt-Eingesessenen, den Treuen, die seit zehn und mehr Jahren wiederkehren, heißt er manchmal Taiji-Platz, man braucht nun mal Begriffe, man muss sich verständigen, weil wir damals mit Taiji begonnen hatten, doch unterdessen ist viel mehr daraus geworden, etwas Formloseres, Ursprüngliches, Unmittelbares, Flüsse von Bewegung, enge Kategorisierungen und Spezialisierungen hinter sich lassend. In einem Jahr hatte ich ihn den »Platz-des-Nicht-Begreifens-und-Ergriffen-Werdens« genannt, was in seiner Umständlichkeit schon fast wieder Chinesisch klingt. Diese Namensgebung war aber sehr kontextbezogen und nie zur Ewigkeit gedacht, man muss sich nur die Länge des Schildes vergegenwärtigen, auf welchem dieser Name Platz finden muss; zudem bin ich in keiner Position, einen Teil Korsikas zu benennen, zum Glück, wo kämen wir da hin.
Die Holperstraße führt zu ihm, sie selbst schon ein Erlebnis. Manchmal, nach seltenem Regen in der Nacht, setzen Pfützen von unermesslicher Tiefe Akzente. Einmal, so die Erzählung, sei eines unserer Autos in einer dieser Pfützen geschwommen wie ein Floß. Solange die Füße trocken blieben, gäbe es keinen Grund zur Besorgnis, hätte der erfahrene Fahrer beruhigt.
Zuhinterst ist er, der Platz, am Ende, da, wo es nicht mehr weiter geht, wo man aussteigt und zu Fuß geht, um Neuland zu entdecken. An einem Strand, dessen Ende ich in all den Jahren noch nie erreicht hatte. Vielleicht an diesem Strand sind vor langer Zeit die Phokäer an Land gegangen, noch bevor Parmenides aus ihrer Reihe seine Traumreise in die Realität unternahm, »so weit mich meine Sehnsucht trug«, eine Kultur der Stille und der Sehnsucht, die mystischen Ur-Wurzeln unserer Kultur. Deshalb gibt es auf Korsika immer noch Unternehmen, die den Namen Kyrnos in sich tragen. Kyrnos, der griechische Name Korsikas.
Der Ort berührt mich jedes Mal neu. Er ist mir nicht deshalb wichtig, weil ich seit Jahren hierher komme, weil ich hier schon so viel erlebt habe, weil er deshalb voller Geschichten, also »aufgeladen« wäre. Im Gegenteil. Der Ort öffnet mich immer wieder einer neuen Fülle hin, aus einer berührenden Un-Berührtheit und direkten Unmittelbarkeit. Es ist die stille Fülle und die volle Stille.
Das Sein ist ein Werden, das Werden ist. Werden bedeutet nicht, immer mehr zu werden. Seit unendlich langer Zeit, für mich seit bald zwanzig bescheidenen Jahren, ist dieser Platz, und er ist relativ unverändert. Er variiert ein wenig auf der Oberfläche, aber er wird nicht anders oder größer oder besser. Er optimiert nicht andauernd, er expandiert nicht, und er macht, so weit ich weiß, keine Weiterbildungskurse, jedenfalls sind keine Diplome sichtbar, mit denen er sich schmückt. Und doch ist dies ein Ort, an welchem ich das Werden deutlich spüre, in jeder Mikrosekunde. Eine sprudelnde Quelle. Und dadurch werde ich eingeladen, zu werden.
Alles zeigt sich hier in aller Deutlichkeit als das, was es ist: ein ganzes Sein, das immer wird. Der Wind und das Licht, die Lichter des Himmels, des Meeres und der Erde, das Rauschen der Wellen und des Windes in den Bäumen, die Düfte und der Raum, den sie durchwehen, sie sind eines. Es ist kein übersinnliches Eines, sondern ein sinnliches. Kein metaphysisches Eines, sondern ein physisches und physisch erfahrbares. Dieses Eine heißt uns willkommen, bettet uns ganz selbstverständlich ein. Wir sind keine Fremd-Körper. Und deshalb werden wir eingeladen, unser Möglich-Werden zu verkörpern. Darum ist dies der perfekte Ort, um einen zumindest teilweise entfremdeten Körper wieder neu zu beheimaten.
Alles ist hier offen-sichtlich. Nichts ist versteckt, auch das Unbenennbare nicht. Ich kann es trotzdem nicht benennen, aber es ist trotzdem nicht versteckt. Nicht in der Tiefe der Jahrhunderte, nicht in der Tiefe des Herzens, nicht in Geheimnissen. Der Platz ist weit offen und lädt uns ein, weit offen zu sein. Ohne Maske, ohne Gewand. Wir können uns nicht verstecken, und wollen das auch nicht.
Ich bewege mich durch diese geschenkten Räume und spüre, dass sie mich durchraumen. Ich ruhe in Bewegung, bewege die Ruhe in mir, lasse mich von der Ruhe in neue Räume bewegen und damit in ein neues Leben. Und werde berührt von etwas, das ich nicht benennen kann.
Die Trennungen lösen sich auf. Innenraum und Außenraum, ich und das Andere. Die Bewegung entspringt dem Raum und dem Moment, dem Hier und Jetzt. Selbst die Bewegungs-Traditionen werden hier wieder zu dem, was sie schon immer waren: zu Flüssen. Ihre Quelle, ihre Ursprünglichkeit, ist jetzt hier, allen zugänglich, sich an alle verschenkend, ja in Überfülle verschwendend.
Ich vertiefe mich in den Körper
Ich vertiefe mich ins Wahrnehmen
Ich vertiefe mich in mich
Ich vertiefe mich in mir
Ich vertiefe mich
Zeit wird Ruhe
Ruhe wird Raum
Raum wird Tiefe
Tiefe wird Stille
Stille wird Fülle
Fülle ist neues Leben
Ich lasse los, lasse noch mehr von dem, was ich nicht bin, sein, damit es ent-werden kann. Ich staune immer wieder, was und wer ich alles nicht bin. Jahrelang halte ich mich für jemanden, nur um zu erkennen, dass mir dieser Jemand keinen Halt gibt.
Ich liebe den Wind. Er ist wie der Atem, immer im Werden und Vergehen, doch immer da, manchmal laut und unüberhörbar, manchmal kaum wahrnehmbar. Aber immer da. Verlässlich. Ich kann mich ver-lassen.
Wind berührt. Das ist seine Natur. Der Wind ist immer berührend, selbst wenn er mich dabei wohl kaum bemerkt.
Ich bin berührt, dass viele TeilnehmerInnen immer wieder nach Korsika kommen. Die Wiederkehr bewegt mich. Und es berühren mich auch diejenigen, die nicht wieder kommen. Weil das Leben andere Wege nimmt oder weil dies schlicht nicht ihr Ort ist. Sie gehen weiter. Für mich ist es öfters, als ich es mir wünschte, ein Verlieren, ein persönlicher Verlust.
Es braucht ganz wenig, um ganz zu werden. So viel können wir lassen. Ganz sein heißt natürlich sein. Doch dieses Sein ist nicht statisch. Natur ist nicht statisch. Man wünscht sich einen statischen Zustand herbei, doch je mehr man ihn festhalten möchte, desto schneller wird er sich verflüchtigen. Denn schon ist man wieder im Tun. Man versucht, durch mentale Kontrolle ganzheitlicher Prozesse sich Sicherheit zu basteln. Wir tun, wenn wir das Werden nicht kennen oder anerkennen.
Hier spüre ich das Werden, und damit die Kraft des Möglich-Werdens. Ich ahne sie, gebe mich ihr hin. Wenn Ernüchterung und Resignation mein Leben einengt, wenn ich des Weges müde bin, kann ich mich niederlassen in die Kraft des Möglich-Werdens, bis ich von ihr wieder bewegt werde.
Und so bewegen wir uns nicht nur, wir sitzen auch. Am Donnerstag Abend in die Nacht hinein. Die Augen-Zeugen ziehen sich in ihr Lauschen zurück.
In der Nacht kommt die Natur etwas zur Ruhe. Diese Nacht ist eine volle Stille, sie schwingt, klingt, resoniert, die Natur an sich, die Grillen, das Meer, aber auch die »anderen Realitäten« sind ganz nah, sind hier, das Subtile ist spürbar, mich als Empfinden durchwehend, präsent, konkret. Die Bäume können sich in den Schutz und die Anonymität der Dunkelheit zurückziehen, ihre Gestalten verschwimmen, lösen sich auf. Die scheinbaren Abgrenzungen, die das Tageslicht erschafft, verschwinden wieder in ihre Ursprünglichkeit, das Verborgene. Wir beginnen im Verborgenen, und wir enden dort. Manchmal, wenn es ganz dunkel um uns scheint, sind wir vielleicht einfach neu gepflanzt worden.
Letzten Herbst hatten meine Frau und ich am anderen Ende Korsikas einen Entschluss gefasst. Zu diesem Ort zu gehen, obwohl Berge uns davon trennten, auf der Stelle. In der totalen Dunkelheit erst kamen wir an, und ich bin schon lange nicht mehr so sehr nach Hause gekommen wie in diesem Augenblick.
Die Meditation am Donnerstag Abend unserer Korsika-Wochen ist für mich immer ein stilles Highlight im Dunkeln. Der Schutz der Nacht umhüllt auch uns. Unsere Grenzen verschwimmen, die Wahrnehmung kann sich von scheinbar festen Formen lösen und in die Welt der Möglichkeiten eintauchen. Wir spüren in andere Welten, wenn das Offen-Sichtliche sich wandelt, ohne sich in irgendeiner Weise zu verbergen. Traumwelten mögen wir sie nennen, oder Psyche, um ihnen ein rationales Gewand zu geben. Wir bewegen uns in diesen Welten; Traumreisen, Fantasie oder Imagination mögen wir sie nennen, zur Beruhigung des Verstandes.
Identifikationen und Identitäten lösen sich auf, ohne dass wir verloren gehen. Die Tiefe des Empfindens ruht in diesem geborgenen Verborgensein. Es kann etwas unheimlich sein, so im Kreis zu sitzen, im Dunkeln, Rücken an Rücken, nach außen gerichtet, während wir uns nach innen und außen öffnen.
Die Leidenschaft, die in diesem Verborgensein unsere Herzen durchleuchtet, wird nie alt. Wenn ich die Dunkelheit liebe und mich von ihr sanft umhüllen lasse, dann wird aus der Angst Vertrauen, aus dem Rückzug ein Auszug in neue Welten. Der scheinbare Abgrund wird zur neuen Fülle, die mir auf Herzenshöhe begegnet. Distanzen verschwinden. Was bleibt, ist Intimität und Vertrautsein.
In dieser Verborgenheit ist neues Leben geborgen. Hier findet das zarte Pflänzchen einer neuen Freundschaft oder eines neuen Lebens seinen Boden. Eine gemeinsame Bewegung in einen gemeinsamen Raum hinein. Ein Leben, eine Freundschaft, in welcher Distanz keine Rolle spielt, weil sie im Selben gründen. So finden wir Heimat.
Nicht, dass wir alle Nacht meditieren. Eine halbe Stunde muss in der Regel reichen. Doch es lohnt sich, diesen Ort am frühen Morgen zu erleben.
In der Morgen-Dämmerung wird alles neu, verfestigt sich wieder, verdichtet sich. Allmählich, langsam, faltet sich das Netz wieder aus. Lichte Räume entstehen, als Knotenpunkte darin die Bäume, die wieder zu festen Formen finden und sich locker versammeln. Das Licht kommt sanft, mit ihm der Horizont. Auch ich verdichte mich wieder. Doch das Vertrautsein der intimen Wirklichkeit bleibt erhalten, und ich spüre es als Zugehörigkeit. Das Sanfte bleibt. Der Raum bleibt. Das Netz bleibt.
Während sich der Ort wieder in seine seit langer Zeit gesetzten Räume verdichtet und sich – aus Menschensicht – nur langsam ändert, führe ich ein schnelleres Leben. In den vielen Jahren, in welchen ich hierher zurückkehre, habe ich doch schon eine größere Wandlung durchgemacht. Zum Beispiel deutlich älter geworden bin ich.
Ich weiß nie genau, was der neue Tag bringt, wenn ich es wage, offen ein neues Leben einzugehen. Ich gehe davon aus, dass die meisten meiner Lebens-Bäume und Lebens-Räume noch sind, wo sie waren, wenn ich aus der Nacht des Subtilen zurückkehre an die Oberfläche von Raum und Zeit. Aber sicher sein kann ich mir nicht. Ich kann nur hoffen, dass sich meine Verletzlichkeit, mein Wagnis, mich dem Unbestimmten zu stellen und ein Fluss zu sein, der sich selbst überrascht, auszahlt. Meine bescheidenen Erfahrungen damit geben mir Zuversicht. Ich nähre mich aus den Wurzeln des Seins, von welchem ich Teil bin.
Wenn eine bewegte Woche zu Ende geht, bleibe ich noch ein bisschen. Eine Ewigkeit. Bis ich den Ort verlasse, aber er mich nicht.
Dann ist er wieder, der Ort, er ist einfach da, und das reicht, und er wird da sein, wenn wir wiederkommen, und uns auf seine stille Art wieder willkommen heißen, die Wiederkehrenden, die Neuen, es macht keinen Unterschied, wir sind alle neu, wir sind alle Wiederkehrende. Ich freue mich schon immer.
Lieber Platz, das ist eine Hommage an dich, und du verzeihst mir, dass ich dich nie richtig in Worte fassen kann. Denn du weißt auf deine Weise, dass das unmöglich ist. Und du weißt, dass ich unaufhörlich daran bin, der Möglichkeit, dass sich das Unmögliche entfaltet, nicht im Weg zu stehen. So gut es mir möglich ist. Auch wenn ich weiß, dass dies ein Weg ist, der nie zu Ende ist. Und dafür, dass es kein Ende gibt, bin ich unendlich dankbar. Der Fluss hat eine Richtung, das reicht. Ich werde zum Fluss, der wir sind. Du bist einfach da, und darum bin ich auf dem Weg. Ich fließe. Geborgen in dir.
Selbst wenn ich eines Tages nicht mehr bin.